Im Jahr 2002 explodierte die „Möllemann-Affäre" im öffentlichen Leben Deutschlands. Jürgen W. Möllemann, damals stellvertretender FDP-Vorsitzender, behauptete, Michel Friedman habe mit seinem „intoleranten, hasserfüllten Stil" Antisemitismus „angeheizt", flankiert von scharfen Attacken auf Ariel Sharon und die „Methoden Israels". Die Folge: Verurteilung durch Kanzler Schröder, ein Absturz der FDP in den Umfragen, Warnungen jüdischer Repräsentanten vor der schwersten Kränkung durch eine deutsche Partei seit 1945 und eine hässliche Welle feindseliger Zuschriften, die verdrängte Feindseligkeit sichtbar machte. Die öffentliche Meinung bestrafte sowohl Möllemann als auch die FDP: Sein Ansehen brach ein, die kurze Dynamik der Partei verpuffte. Möllemann entschuldigte sich halb – außer bei Friedman – und die FDP drängte ihn schließlich zur Seite. Zwei Jahrzehnte später zeigte die documenta fifteen (2022), wie deutlich sich das öffentliche Klima im Umgang mit Antisemitismus verschoben hat. Zögerliches oder ausbleibendes Handeln und fehlende Fehlerbenennung werden von der öffentlichen Meinung kaum noch sanktioniert.
22. Mai 2025
Neue Reihe in der Synagoge Stommeln eröffnet – GPS-Taubenflüge werden zu Stimmen – Der Erinnerungsort erwacht – vorsprachliche Effekte
Am 22. Mai 2025 eröffnete Olaf Nicolai im international renommierten „Kunstprojekt Synagoge Stommeln", das lange pausiert hatte, die Reihe „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief". Sängerinnen und Sänger übersetzten dabei per GPS verfolgte Taubenflüge in Stimmen.
Am 2. Juni 2025 schrieb unser Rechtsbeistand an den Bürgermeister: Bestimmte vokale Elemente der Performance sind historisch in antisemitischen Kontexten aufgeladen und verletzen in einer ehemaligen Synagoge eher, als dass sie reflektieren. Wir baten um einen vertraulichen Dialog. Das war keine Forderung, Kunst zu zensieren; es war eine Bitte, an einem Erinnerungsort Urteilsvermögen auszuüben. Diese Einschätzung wurde von unabhängigen Fachstimmen gestützt, u. a. von Prof. Dr. Jascha Nemtsov, von Daniel Vymyslicky (NS-Dokumentationszentrum Köln, Bereich gegen Antisemitismus) sowie vom Büro der Beauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur und durch weitere Rückmeldungen aus der jüdischen Musikforschung.
Am 10. Juni 2025 schrieb Georg Imdahl begeistert in der FAZ – „Die Botin neuen Sinns" und „Gurren, Brodeln, Prusten und flehentliches Wimmern" – und lenkte damit öffentlich den Fokus gerade auf jene kritischen lautmalerischen, vorsprachlichen Effekte.
Schon vor der Eröffnung zog die Stadt Pulheim eine klare Grenze gegenüber der Initiative Wiederbelebung des Kunstprojekts Synagoge Stommeln i.G.. Ziel der Initiative war es, das Projekt partnerschaftlich zu stärken, verlässliche Verfahren für einen erinnerungssensiblen Ort zu etablieren und die digitale Transformation voranzubringen. Die Antwort der Stadt fiel deutlich ablehnend aus. Seit 1991 verantwortet die Stadt das Synagogen-Projekt; Entscheidungen liegen beim Kulturamt (Leitung: Angelika Schallenberg) mit Input des Konzeptkünstlers Mischa Kuball und der Initiative ITZKUMP –Interesse, dies über eine neue Initiative zu organisieren, bestand nicht. Als ich mich am 30. März 2025 direkt an Bürgermeister Frank Keppeler wandte, bestätigte das Antwortschreiben vom 7. April den Eingang und verwies die Angelegenheit zurück an eben dieses Amt. Die Botschaft war unmissverständlich: Wir entscheiden; Sie können zuschauen. Diese Haltung rahmte, was dann folgte – öffentliches Unbehagen ohne ein öffentlich nachvollziehbares Verfahren, darauf zu reagieren.
Nach mehreren, seit der Eröffnungsperformance unternommenen Anläufen des Büros der Beauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur, einen vertraulichen Arbeitsdialog und eine moderierte Runde unter Einbindung aller Beteiligten einzurichten, zog die Stadt Pulheim den Prozess strategisch in die Länge. Ein verbindlicher Termin kam daher nicht zustande.
Offener Brief (3. Juli 2025)
Offener Brief – verbindliche Prüfstandards, frühe jüdische Expertise, transparente Entscheidungen
Am 3. Juli 2025 veröffentlichte ich im Namen der Initiative einen offenen Brief. Seine Botschaft war schmerzhaft einfach: An Erinnerungsorten reicht künstlerische Freiheit allein nicht; es braucht verbindliche Prüfstandards für eine antisemitismussensible und historisch sensible Begutachtung, frühzeitige und echte jüdische Expertise am Tisch sowie transparente Entscheidungen. Nichts davon sollte im Deutschland des Jahres 2025 kontrovers sein. Dennoch verschob sich die Debatte wiederholt auf Verfahrensfragen und Ausweichbewegungen, statt die Verantwortung am Erinnerungsort selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Kurz danach kam das Dementi der Stadt, dokumentiert im Kölner Stadt-Anzeiger. Der Vorwurf wurde zurückgewiesen. Das Werk basiere, hieß es, auf gängigen zeitgenössischen Techniken und Textfragmenten; es mit entmenschlichenden Gebräuchen zu verknüpfen, widerspreche Intentionen von Projekt und Künstler. Aus dieser Haltung ist die vertraute Stimme institutioneller Selbstgewissheit zu vernehmen, die sich weigert zu hören, was der Raum hörte. Sie spielt Sicherheit vor, wo Demut am nötigsten wäre.
Änderung der Aufführung
Aufführung geändert – Rituelle Elemente im Fokus – Problematische Lautäußerungen verschwinden – Das Eingeständnis der Stadt Pulheim fehlt
Dann geschah etwas Aufschlussreiches. Die Aufführung änderte sich deutlich. Beobachter bemerkten eine „bewusste Anpassung“: Die animalischen oder onomatopoetischen Elemente fehlten; Hinweise auf Kantorengesang und rituelle Geste traten hervor. Kurze sprachliche Bausteine wurden in die Performance integriert. Das war bewegend – und es räumte stillschweigend ein: Kontext ist bedeutsam; Klang trägt Geschichte; man hat eine Wahl. Und doch blieb weiterhin ein Eingeständnis aus. Die Linie der Stadt rückte nicht; statt „Wir hören Sie“ zu sagen, verwies man auf meine Rolle in einer Initiative in Gründung, als könne Motivzuschreibung die Tatsache tilgen, was sich in einem sakralen Raum ereignet hatte.
lautmalerische Risiken
„Gurren, Brodeln, Prusten und flehentliches Wimmern“
Ich bin verblüfft, dass Georg Imdahls FAZ-Text die lautmalerischen Effekte („Gurren, Brodeln, Prusten, Wimmern“) preist, ohne die Risiken an einem Erinnerungsort zu benennen. Solche vorsprachlichen Laute wurden historisch zur Entmenschlichung von Jüdinnen und Juden eingesetzt und können in diesem Kontext als verletzend gesehen werden. Auch nachdem die Performance später revidiert wurde, blieb die im Artikel gesetzte Rahmung, soweit ersichtlich, unverändert; eine entsprechende Einordnung erfolgte weder durch Georg Imdahl noch durch die FAZ.
Verblüffend ist auch, wie bereitwillig wir gemeinsam wegsehen. Das Ben Haim Forschungszentrum an der Hochschule für Musik und Theater München existiert genau dafür, jüdische Musik und die Musik verfolgter Komponistinnen und Komponisten zu erforschen; es wird von Dr. Tobias Reichard geleitet und hat bedeutende Projekte und Archive betreut. Doch als ich in dieser Debatte den Kontakt suchte, bat der Antwortende um Vertraulichkeit und lehnte es ab, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich respektiere die Bitte; ich beklage das Klima, das sie nötig macht. Wenn ein Forschungszentrum, das auf die Wiedergewinnung zum Schweigen gebrachter Stimmen gebaut ist, nicht offen darüber sprechen kann, wie bestimmte Klänge in einer Synagoge wirken – wer dann?
Und ich bin verblüfft über die strukturellen Grenzen, die wir gerade dort entdecken, wo Macht gebraucht würde. Wir haben viel ehrliche Unterstützung und Empathie erfahren – vom Büro der Beauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur. Das Amt – derzeit geführt von Staatsministerin a.D. Sylvia Löhrmann – koordiniert Prävention, dient als Anlaufstelle für Betroffene und veröffentlicht jährliche Berichte und Empfehlungen an den Landtag. Wichtige Arbeit, ja. Aber hier liegt das ehrliche Problem: Das Amt kann beraten, vernetzen und berichten; es hat jedoch keine unmittelbare Durchsetzungskompetenz, eine Kommune dazu zu bringen, die Kuratierung eines Erinnerungsortes zu ändern. Das Ergebnis ist ein Paradox: ein System, das Schaden präziser messen kann als je zuvor – und dennoch Mühe hat, ihn zu unterbrechen.
Die Initiative, die ich vertrete, wurde teils als Eindringling dargestellt, der Kontrolle anstrebt. Der Aktenbefund zeigt etwas anderes. Entwürfe für die Initiative schlagen vor, die jährlichen Künstlerprojekte wiederzubeleben, aktives jüdisches Leben zu integrieren und eine digitale Transformation voranzutreiben – gerade weil die öffentliche Präsenz des Projekts ausgedünnt ist. Zu den Zielen der Initiative gehört unter anderem, solche Fehler wie in dieser Performance frühzeitig zu erkennen, ihnen vorzubeugen und sie – wo nötig – zu korrigieren. Das ist keine feindliche Übernahme; das ist eine Einladung, Verantwortung zu teilen. Eine ehemalige Synagoge ist nicht nur kommunales Eigentum; sie ist im tieferen Sinn dem jüdischen Gedächtnis entliehen. Das Einverständnis des Eigentümers darf nicht zum Schutzschild für den Eigentümer werden.
Synagoge Stommeln – Wiederbelebung des jüdischen Erbes
Synagoge Stommeln – jüdisches Erbe neu belebt – Initiative gegründet. Ein Ort – ein Raum – zwei Welten. Lokal verankert, global sichtbar
Was 2002 als gemeinsame Aufgabe galt, erscheint 2025 allzu oft als „jüdische“ Spezialzuständigkeit. Fest steht: Antisemitismus frisst sich in die Mitte der Gesellschaft und schwächt das Gemeinwesen und damit uns alle. Angesichts dessen, was vor 23 Jahren nicht für möglich gehalten worden wäre – nämlich, dass Antisemitismus als bloßes „jüdisches Problem“ betrachtet wird – kündigt die Initiative Synagoge Stommeln – Wiederbelebung des jüdischen Erbes ihre Gründung an.
Boaz Kaizman
Im Namen der Initiative „Synagoge Stommeln – Wiederbelebung des jüdischen Erbes“